Holons & Holarchien
Die Natur unserer Wirklichkeit
»Die Wirklichkeit insgesamt ist nicht aus Dingen oder Prozessen zusammengesetzt, sondern aus Holons. Das heißt, sie besteht aus Ganzen, die zugleich Teile anderer Ganzer sind, ohne dass es nach oben oder unten eine Grenze gäbe.«
– Ken Wilber
Holon – ein Teil/Ganzes
Wilber verwendet den von Arthur Köstler geprägten Begriff „Holon“ (griech. hólos und ὀv, „das Teil eines Ganzen Seiende“) um auf ein zentrales Prinzip der Natur hinzuweisen nämlich, dass eine spezifische Ganzheit stets zugleich Teil einer größeren Ganzheit ist. Ein solches auch „Teil/Ganzes“ genanntes Holon weist Wilber folgend vier Triebe auf:
- Agenz: Einen Trieb, seine Ganzheit zu bewahren.
- Kommunion: Einen Trieb, seine Teilheit zu bewahren.
- Selbsttranzendenz: Ein vertikales Vermögen zur Bildung höherer Einheiten.
- Selbstauflösung: Ein vertikales Vermögen zum Verfall in seine Bestandteile.
Holarchie
Unsere Wirklichkeit kann als eine endlose Serie solcher Teil/Ganzes-Beziehungen betrachtet und verstanden werden.
Aus Holons bilden sich entsprechend ineinander geschachtelte Wachstums-Hierarchien, so genannte Holarchien. So ist beispielsweise ein bestimmtes Atom als Ganzheit wiederum Teil der Ganzheit eines bestimmten Moleküls, und dieses Molekül als Ganzheit wiederum Teil der Ganzheit eines Organismus etc. Dabei transzendiert und bewahrt das übergeordnete Holon das ihm untergeordnete Holon.
Holons existieren in allen vier Quadranten und auch die hier verwendeten Begriffe „Individuum“ und „System“ sind Holons, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Eigenschaften in individuelle Holons und soziale (kollektive) Holons differenziert werden.
Darüber hinaus beschreibt Wilber zwei weitere Arten von nicht-bewussten Teil/Ganzes-Beziehungen, nämlich Artefakte und Haufen. Aufgrund ihrer charakteristischen Teil/Ganzes-Beziehungen bilden diese eigene Hierarchien aus, nämlich Artefaktarchien (z.B. besteht ein Computer aus verschiedenen Komponenten, die absichtsvoll zu einem funktionierenden Artefakt-System organisiert werden) und Haufenarchien (z.B. ist ein Sandhaufen eine physische Ansammlung von Sandkörnern ohne Ordnung oder Organisation).
Eine Holarchie

Individuelles Holon
Ein individuelles Holon charakterisiert eine Einheit mit vier Dimensionen – den Quadranten oder „Gesichtern“ des Holons – mit einer subjektiv erfahrbaren, intentionalen inneren Dimension und einer objektiv sichtbaren und messbaren äußeren Dimension auf einer individuellen Ebene – es ist an einem einfachen Ort lokalisiert – und einer sozialen kollektiven Ebene – es interagiert mit seinen intersubjektiven und interobjektiven Kontexten und Umwelten.
Individuelle Holons verfügen über eine Innerlichkeit und ein Bewusstseinszentrum und weisen eine Agenz (ein „Ich“) auf.
Beispiele für individuelle Holons sind u.a. ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze oder ein Atom.
Ein individuelles Holon

Soziales Holon
Soziale (kollektive) Holons sind Gruppen individueller Holons mit einem bestimmten Modus der Interaktion.
Im Unterschied zu individuellen Holons verfügen soziale Holons nur über die beiden unteren Quadranten eines individuellen Holons. Soziale Holons weisen keine Innerlichkeit oder Bewusstheit auf, verfügen jedoch über Inter-Subjektivität. Zudem setzen sie sich aus mehreren individuellen Holons und Artefakten zusammen und haben dadurch keine einheitliche Äußerlichkeit.
Ein Beispiel dafür ist eine Ameisenkolonie als soziales Holon, die aus Ameisen (den Individuen) und der physischen Struktur des Ameisenhügels (einem Artefakt der Ameisen) besteht.
Ein weiteres Beispiel für ein soziales Holon ist ein Unternehmen mit seinen Mitarbeitern und Führungskräften (Individuen), die sich gemäß ihrer individuellen Erfahrungen, Werte, Einstellungen und Fähigkeiten einbringen, und den von ihnen bewusst geschaffenen Strukturen, Prozessen und sonstigen Systemen (Artefakten), die das Zusammenspiel der Individuen organisieren und aufrechterhalten.
Wichtig dabei ist zu verstehen, dass ein individuelles Holon kein Teil, kein konstituierendes Element eines sozialen Holons ist, sondern ein Mitglied von ihm. Aus Sicht eines individuellen Holons, z.B. eines Mitarbeiters, charakterisiert das soziale Holon „Unternehmen“ nur eine Facette seines kulturellen und sozialen Umfelds, nämlich sein Beruf. Daneben gibt es andere soziale Holons, in denen er Mitglied sein kann, z.B. Sportverein oder Kirchengemeinde. Als Individuum und Mitglied seiner sozialen Holons verfügt der Mitarbeiter über Rechte und Verpflichtungen, die die Elemente eines Organismus an sich nicht haben.
Wird indes eine Gruppe von Individuen irrtümlich als Teil eines Über-Organismus betrachtet, besteht die Gefahr, dass dieses übergeordnete System zu einem unbezwingbaren Leviathan mutiert, einem totalitären Wesen, welches die individuellen Rechte seiner Mitglieder missachtet und seine Macht dazu missbraucht, die Individuen zu unterwerfen und zu beherrschen.
Ein soziales Holon „Unternehmen“

Artefakt
Ein Artefakt ist ein durch individuelle oder soziale Holons instinktiv oder absichtsvoll erschaffenes Holon ohne innere Dimension. Es kann dabei direkt oder indirekt durch ein Holon geschaffen werden. Ein Mensch kann z.B. eine Maschine schaffen, die dann wieder andere Produkte herstellen kann.
Artefakte werden geschaffen um einen bestimmten Zweck zu erfüllen und haben ein erkennbares Muster welches ihnen durch seinen Schöpfer eingeprägt wurde und ihm eine Identität gibt. Unabhängig von dem Zweck für den es geschaffen wurde, kann das Artefakt auch für andere Zwecke genutzt werden, und es bleibt doch was es ist.
Ein Artefakt

Haufen
Ein Haufen ist eine zufällig entstandene Ansammlung von Zeug, die aus anderen Haufen, Holons oder Artefakten bestehen kann. Ein Haufen hat keine innere Dimension (kein „Ich“) und entsteht ohne Absicht oder ein erkennbares organisierendes Prinzip.
Ein Sandhaufen z.B. besteht aus Sandkörnern, und ein Haufen Kleidungsstücke besteht einfach aus übereinanderliegenden Kleidungsstücken, ohne Ordnung oder Organisation.
Ein Haufen

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